Bericht an das Bundesministerium für Gesundheit
Projektlaufzeit: 15.11.2010 bis 14.02.2011
Förderkennzeichen: Kapitel 15 02 Titel 684 69
Fördersumme: 14.580 €
Hans-Jürgen Rumpf, Christian Meyer, Anja Kreuzer & Ulrich John
unter Mitarbeit von
Ad Vermulst (Department of Developmental Psychopathology, Behavioural Science Institute, Radboud University Nijmegen, Niederlande)
Gert-Jan Merkeerk (IVO Addiction Research Institute, Rotterdam, Niederlande)
Leitung und Kontaktanschrift: PD Dr. Hans-Jürgen Rumpf
Universität Lübeck, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ratzeburger Allee 160, 23538
Lübeck, Tel. 0451/5002871, email: hans-juergen.rumpf@psychiatrie.uk-sh.de
Greifswald und Lübeck, 31.05.2011
Inhaltsverzeichnis
- Zusammenfassung
- Einleitung
1.1 Ausgangslage des Projektes
1.2 Stand der Forschung
1.3 Ziel der PINTA-Studie
1.4 Projektaufbau, Strukturen und Verantwortlichkeiten - Erhebungs- und Auswertungsmethodik
2.1 Stichprobe
2.1.1 Festnetzstichprobe
2.1.2 Mobile-Only-Stichprobe
2.2 Erhebungsverfahren
2.3 Statistische Analysen
2.3.1 Vorgehen bei der Prävalenzschätzung
2.3.2 Gewichtung der Telefonstichprobe und Berücksichtigung des Stichprobendesigns
bei der Datenauswertung - Durchführung, Arbeits- und Zeitplan
- Ergebnisse
4.1 Prävalenzschätzung auf Basis des Cut-offs
4.2 Prävalenzschätzung auf Basis der Latent-Class-Analyse (LCA) - Diskussion der Ergebnisse
- Gender Mainstreaming Aspekte
- Gesamtbeurteilung
- Verbreitung und Öffentlichkeitsarbeit der Projektergebnisse
- Verwertung der Projektergebnisse (Nachhaltigkeit/Transferpotential)
- Publikationsverzeichnis
- Literatur
0. Zusammenfassung
Hintergrund: Die Datenlage zur Prävalenz der Internetabhängigkeit ist defizitär. Die zur Verfügung stehenden Befunde für Deutschland weisen methodische Mängel auf, insbesondere basieren sie nicht auf repräsentativen Stichproben. Die vorliegende Analyse kann auf eine große und repräsentative Stichprobe zurückgreifen, die im Rahmen der Studie Pathologisches Glücksspielen und Epidemiologie (PAGE) rekrutiert wurde. In diesem Projekt wurde als eine Komorbidität auch Internetabhängigkeit mit Hilfe der Compulsive Internet Use Scale (CIUS) erfasst.
Methode: Die Stichprobe bestand aus 15.024 Personen im Alter von 14–64 Jahren, die telefonisch befragt wurden und von denen 1.001 lediglich über Mobiltelefon und nicht über Festnetz erreichbar waren. Neben einem proportionalen Zufallsstichprobenansatz wurde die Repräsentativität über umfangreiche Gewichtungen sichergestellt. Die Schätzung der Prävalenz erfolgte in der PINTA-Studie über die CIUS, in dem 1. ein Cut-off aus einer anderen Studie genutzt und 2. auf Basis der CIUS-Items eine Latent Class Analyse gerechnet wurde.
Ergebnisse: Auf Grundlage des Cut-offs von 28 ergibt sich eine geschätzte Prävalenz für das Vorliegen einer Internetabhängigkeit von 1,5% (Frauen 1,3%, Männer 1,7%). Bei Nutzung der LCA liegen die Raten mit 1% (Frauen 0,8%, Männer 1,2%) etwas niedriger. In der Altersgruppe 14–24 steigt hier die Prävalenz auf 2,4% an (Frauen 2,5% Männer 2,5%). Bei Betrachtung nur der 14–16-Jährigen finden sich 4,0% Internetabhängige (Frauen 4,9%, Männer 3,1%). Der hohe Anteil bei den jungen Mädchen findet sich bei beiden methodischen Vorgehensweisen. Die auffälligen Mädchen und Frauen (14–24 Jahre) nutzen vorwiegend Soziale Netzwerke im Internet (77,1% der Abhängigen nach LCA) und eher selten Onlinespiele (7,2%). Die jungen Männer nutzen ebenfalls, aber in geringerer Ausprägung Soziale Netzwerke (64,8%), aber häufiger Onlinespiele (33,6%). Mit Hilfe der LCA lässt sich neben den vermutlich Abhängigen eine weitere Gruppe mit problematischem Internetgebrauch identifizieren, die insgesamt 4,6% der Befragten betrifft (Frauen 4,4%, Männer 4,9%). Auch hier zeigen sich hohe Raten bei jungen Kohorten und dort in besonderem Maße bei weiblichen Personen.
Schlussfolgerung: Im Vergleich zu einer früheren Schätzung von 3,2% auf Basis einer anderen Studie finden sich bei PINTA niedrigere, dennoch bedeutsame Raten. Die Genauigkeit der Schätzung ist auf Basis der repräsentativen Stichprobe hier deutlich verbessert. Auffällig ist die hohe Prävalenz unter Mädchen und jungen Frauen. Weitere Studien mit vertiefenden Analysen sind notwendig.
1. Einleitung
1.1 Ausgangslage des Projektes
Die Internetabhängigkeit ist eine noch wenig erforschte Form der stoffungebundenen Süchte. Ihr wird derzeit viel Aufmerksamkeit geschenkt, u. a. weil es sich um eine Problematik mit wachsender Bedeutung handeln könnte. Bislang ist ungeklärt, ob (1) Suchtprobleme bei Internetgebrauch eine bedeutsame Störung mit klinischer Relevanz darstellen und (2) ob deren Prävalenz in der Bevölkerung Größenordnungen aufweist, die bundespolitisches Handeln erfordern. Bisher gibt es jedoch aufgrund des Mangels an hinreichend validen Daten keine aussagekräftigen Untersuchungen des Problems.
1.2 Stand der Forschung
International finden sich Prävalenzraten zwischen 1 und 14% (Christakis, 2010). Die Daten zur Häufigkeit von Internetabhängigkeit international und für den deutschen Raum sind in einem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Projekt gesichtet und zusammengefasst worden (Petersen et al., 2010). Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Vielzahl von methodischen Problemen vorliegt, so dass nur vorläufige Schätzungen möglich sind. Die Hauptprobleme bestehen darin, dass es sich in vielen Fällen um Gelegenheitsstichproben handelt, die keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben können, und dass Erhebungsverfahren eingesetzt wurden, die nicht validiert sind. Es kommt hinzu, dass derzeit keine einheitliche Definition von Internetabhängigkeit vorliegt (Byun et al., 2009).
Die einzige bisherige Studie für Deutschland, welche auch den Bereich der Erwachsenen mit erfasste, stammt von Hahn und Jerusalem (2001). Auf Basis einer Online-Stichprobe von mehr als 7000 Personen ergibt sich eine Prävalenz von 3,2% über alle Altersgruppen, der Anteil steigt bei jüngeren Probanden. Jungen unter 18 Jahren waren etwa doppelt so häufig betroffen verglichen mit weiblichen Teilnehmern, welche jedoch insgesamt in der Studie unterrepräsentiert waren. Ein großer Teil der Studien zur Internetabhängigkeit bezieht sich jedoch nur auf Jugendliche. So berichtet Meixner (2010) auf der Basis einer Befragung in Schulen eine Häufigkeit von 1,4% bei 12 bis 25-Jährigen. Weitere Studien beschränken sich auf das Computerspielverhalten. In einer repräsentativen Schülerbefragung findet sich hierfür eine Rate von 1,7% (Rehbein, Kleimann & Mossle, 2010).
Seit der ausführlichen Übersichtsarbeit von Petersen und Thomasius (2010) zum pathologischen Internetgebrauch in Deutschland ist eine weitere Erhebung an der Universität Mainz bei 2.512 Personen mit Einschluss des Erwachsenenalters mit dem Ziel einer Prävalenzschätzung durchgeführt worden. Die Daten sind bislang jedoch unveröffentlicht.
Zusammengefasst ist derzeit die Datenlage hinsichtlich der Häufigkeit von problematischem Internetgebrauch bzw. Internetabhängigkeit in Deutschland lückenhaft. Die bisherigen Studien haben Teilpopulationen untersucht oder keine repräsentative Basis aufgewiesen.
1.3 Ziel der PINTA-Studie
Das Ziel von PINTA bestand darin, möglichst verlässliche Zahlen für das Ausmaß von Internetabhängigkeit bereit zu stellen, indem zwei methodische Schwächen bisheriger Studien überwunden wurden: a) durch den Einschluss von sowohl Jugendlichen als auch Erwachsenen und b) durch die Gewährleistung von Repräsentativität.Für die Abschätzung der Internetabhängigkeit in Deutschland wurde die Analyse eines Datensatzes der Studie „Pathologisches Glücksspielen und Epidemiologie (PAGE)“ durchgeführt. In dieser Studie ist Internetabhängigkeit als eine Komorbidität von Pathologischem Glücksspielen mit erfasst worden. Da PAGE eine repräsentative und große Stichprobe in der Altersgruppe 14–64 bietet, ließ sich eine genauere Schätzung der Prävalenz ermöglichen.
1.4 Projektaufbau, Strukturen und Verantwortlichkeiten
Die Federführung des Projektes lag bei der Universität Lübeck. Es erfolgte eine enge Kooperation mit dem Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universitätsmedizin in Greifswald. Dieses wurde strukturell durch Telefonkonferenzen und regelmäßige bilaterale telefonische Kontakte sicher gestellt.
Für die Einholung von zusätzlicher Expertise auf dem Gebiet der Internetabhängigkeit konnte Dr. Gert-Jan Meerkerk (IVO Addiction Research Institute, Rotterdam, Niederlande) gewonnen werden. Für statistische Analysen wurde das Projekt weiterhin von Dr. Ad A. Vermulst (Department of Developmental Psychopathology, Behavioural Science Institute, Radboud University Nijmegen, Niederlande) unterstützt, der Experte für die Berechnung von Latent Class Analysen ist. Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter wurden eingestellt, die bereits auch in der PAGE-Studie mitgearbeitet hatten, so dass hier Synergien hergestellt werden konnten.
2. Erhebungs- und Auswertungsmethodik
Es wurde eine Analyse der Daten des PAGE-Projektes durchgeführt. PAGE wurde im Rahmen des Glücksspielstaatsvertrages von den Bundesländern gefördert und vom 01.12.2009 bis 28.02.2011 durchgeführt. Die Methodik und erste Ergebnisse liegen in Form eines Abschlussberichtes vor (Meyer et al., 2011). Der multimodale Rekrutierungsansatz von PAGE beinhaltete u.a. eine telefonische bundesweite Befragung. Diese bildet die Grundlage für die in PINTA durchgeführte Datenanalyse.
2.1 Stichprobe
Es wurden zwei Stichproben für die telefonische Befragung gezogen. Neben einer Zufallsauswahl an Festnetznummern wurden ebenfalls Personen rekrutiert, die nur über Mobiltelefone erreichbar sind. Dieser Strang ist von besonderer Bedeutung, da der Anteil der Personen, die nur über diesen Weg erreichbar sind, bedeutsam ist und weiter steigt. Es ergeben sich Hinweise, dass es sich um eine Population handelt, die spezifische Merkmale aufweist. So ist z.B. die Prävalenz Pathologischen Glücksspielens in dieser Gruppe erhöht (Meyer et al., 2011). Mit allen Teilnehmern wurde ein im Durchschnitt 15-minütiges computergestütztes Telefon-Interview (CATI) von geschulten Interviewern durchgeführt.
2.1.1 Festnetzstichprobe
Die Stichprobenziehung erfolgte in einem mehrstufigen Vorgehen durch infas. Eine detaillierte Beschreibung ist im entsprechenden Methodenbericht zu finden (Hess, Steinwede, Gilberg & Kleudgen, 2011), der auf Anfrage von den Autoren des vorliegenden Berichts bereit gestellt wird. In der ersten Stufe wurden Primary Sampling Units (PSU) gezogen. Die Auswahlwahrscheinlichkeit der Gemeinden (Sample Points) erfolgte proportional zur Wohnbevölkerung in der Zielgruppe. Insgesamt wurden 53 Sample Points in 52 Gemeinden bestimmt (Berlin war mit zwei Sample Points vertreten). Für die zufällige Auswahl der PSUs wurden Stratifizierungen nach den Bundesländern, Regierungsbezirken und Kreisen sowie der Spielautomatendichte vorgenommen. Die ausgewählten Gemeinden sind in Abbildung 1 dargestellt.
In einem zweiten Schritt wurden die Haushalte anhand von Telefonnummern bestimmt. Diese Secondary Sampling Units (SSUs) wurden den Gemeinden über die Vorwahlen zugeordnet. In jeder Gemeinde wurden 5.800 Telefonnummern für die Bruttostichprobe gezogen.Im dritten Schritt wurden die Zielpersonen bestimmt (Third Sampling Unit, TSU). Gab es mehr als eine Person, die in die Zielgruppe (Alter 14 bis 64 Jahre) gehörte, wurde jene Person gewählt, die zuletzt Geburtstag hatte.
Abbildung 1: Sample Points (dargestellt durch blaue Markierungen; rosa Markierungen stellen Therapieeinrichtungen für Pathologisches Glücksspielen dar)
In der Zeit vom 7. Juni bis zum 22. Oktober 2010 wurden insgesamt 14.022 telefonische Interviews aus der Festnetzstichprobe durchgeführt. Von 26.736 Haushalten, in denen eine Zielperson im Alter von 14 bis 64 Jahren lebte, konnte mit 52,4% der Zielpersonen nach Anwendung der Last-Birthday-Frage ein Interview durchgeführt werden, 38,9% verweigerten die Teilnahme an der Befragung. 8,7% der Zielpersonen nahmen nicht teil, weil die Kontaktperson den Zugang verweigerte (4,6%), weil sie zu schwer erkrankt waren für eine Befragung (1,4%) oder weil sie nicht erreichbar waren (2,7%; Hess & Steinwede, 2011).
2.1.2 Mobile-Only-Stichprobe
Die Ziehung der Stichprobe von Personen, die nicht über das Festnetz, sondern nur über Mobiltelefon erreichbar sind, erfolgte wegen der nicht realisierbaren regionalen Zuordnung bundesweit. Die Zielgruppe waren erneut Personen im Alter von 14 bis 64 Jahren. Über ein Screening wurden aus den per Zufall gezogenen Telefonnummern nur jene Personen ausgewählt, die ausschließlich über ein mobiles Telefon erreichbar sind.
Insgesamt wurden zwischen dem 22. November 2010 und dem 1. Februar 2011 in der Mobile-Only-Stichprobe 1.001 telefonische Interviews realisiert. Dazu musste bei 13.273 Personen ein Screening auf alleinige Erreichbarkeit per Mobiltelefon durchgeführt werden. Von den 1.767 ermittelten potenziellen Zielpersonen verweigerten 747 Personen (42,3%) dieTeilnahme. 7 Personen (0,4%) waren aufgrund von Erkrankungen oder Behinderungen nicht in der Lage, am Telefoninterview teilzunehmen. 12 Personen (0,7%) schieden wegen unzureichender Deutschkenntnisse aus (Hess & Steinwede, 2011).
2.2 Erhebungsverfahren
Im Mittelpunkt der Prävalenzschätzung für pathologischen Internetgebrauch stand die Compulsive Internet Use Scale (CIUS; Meerkerk, Van Den Eijnden, Vermulst & Garretsen, 2009), ein Fragebogenverfahren zur Erfassung von Merkmalen der Internetabhängigkeit. Ihre 14 Items haben ein fünfstufiges Antwortformat (Abbildung 2), wobei zwischen 0 und 56 Punkten erreicht werden können. Das Verfahren wurde in mehreren Teilstichproben entwickelt und zeigt durchweg eine einfaktorielle Struktur. Es liegen dazu auch Daten aus der Allgemeinbevölkerung vor, was für die Wahl dieses Verfahrens zum Einsatz in epidemiologischen Surveys spricht. Das Cronbachs Alpha als Maß für die interne Konsistenz betrug .89 und weist auf eine gute Reliabilität hin. Es zeigte sich eine konvergente Validität mit ähnlichen Verfahren. Derzeit liegt noch kein empfohlener Cut-off auf breiter Datenbasis vor. Erste Hinweise legen einen Schwellenwert von 28 nahe (s. 3.3.1; Van Rooij, Schoenmakers, Vermulst, Van Den Eijnden & Van De Mheen, 2011).
Abbildung 2: Items des CIUS (Antwortkategorien: nie, selten, manchmal, häufig, sehr häufig)
- Wie häufig finden Sie es schwierig, mit dem Internetgebrauch aufzuhören, wenn Sie online sind?
- Wie häufig setzen Sie Ihren Internetgebrauch fort, obwohl Sie eigentlich aufhören wollten?
- Wie häufig sagen Ihnen andere Menschen, z.B. Ihr Partner, Kinder, Eltern oder Freunde, dass Sie
- das Internet weniger nutzen sollten?
- Wie häufig bevorzugen Sie das Internet statt Zeit mit anderen zu verbringen, z.B. mit Ihrem Partner,
- Kindern, Eltern, Freunden?
- Wie häufig schlafen Sie zu wenig wegen des Internets?
- Wie häufig denken Sie an das Internet, auch wenn Sie gerade nicht online sind?
- Wie oft freuen Sie sich bereits auf Ihre nächste Internetsitzung?
- Wie häufig denken Sie darüber nach, dass Sie weniger Zeit im Internet verbringen sollten?
- Wie häufig haben Sie erfolglos versucht, weniger Zeit im Internet zu verbringen?
- Wie häufig erledigen Sie Ihre Aufgaben zu Hause hastig, damit Sie früher ins Internet können?
- Wie häufig vernachlässigen Sie Ihre Alltagsverpflichtungen (Arbeit, Schule, Familienleben), weil
- Sie lieber ins Internet gehen?
- Wie häufig gehen Sie ins Internet, wenn Sie sich niedergeschlagen fühlen?
- Wie häufig nutzen Sie das Internet, um Ihren Sorgen zu entkommen oder um sich von einer negativen
- Stimmung zu entlasten?
- Wie häufig fühlen Sie sich unruhig, frustriert oder gereizt, wenn Sie das Internet nicht nutzen können?
Allen Personen, die angaben, das Internet für private Zwecke entweder mindestens eine Stunde an einem Wochentag oder einem Tag am Wochenende genutzt zu haben, wurden die Fragen der CIUS vorgelegt. Das Verfahren wurde zusammen mit anderen Erhebungsinstrumenten eingesetzt. Inhaltlich im Vordergrund stand dabei die Erfassung von Glücksspielverhalten und Pathologischem Glücksspielen. In der Reihenfolge der Darbietung wurde zunächst ein Verfahren zur Erfassung von Social Capital eingesetzt, gefolgt von CIUS, dem Interview zum Glücksspielen und soziodemografischen Fragen. Die Erfassung von Social Capital erfolgte über 12 Fragen zur Teilnahme an sozialen Ereignissen in den letzten 12 Monaten (Kino, Sportveranstaltung, Kunstausstellung, Weiterbildung etc.; Hanson, Östergren, Elmstahl, Isaacsson & Ranstam, 1997). Das Verfahren beinhaltet neben diesen Angaben zu dem Konstrukt „Social Participation“ auch eine Frage dahingehend, inwieweit das Gefühl besteht, im Allgemeinen anderen Menschen vertrauen zu können („Trust“). Pathologisches Glücksspielen wurde mit der Gambling Sektion des Composite International Diagnostic Interview (CIDI) erfasst (WHO, 2009). Weiterhin wurde erfragt, mit welchen Aktivitäten mehr als 50% der Zeit im Internet verbracht wird. Die Freitextangaben wurden zu Oberkategorien zusammengefasst. Bei Mehrfachangaben wurde die jeweils erste Nennung ausgewertet.
2.3 Statistische Analysen
2.3.1 Vorgehen bei der Prävalenzschätzung
Die Schätzung der Häufigkeit von Internetabhängigkeit erfolgte über zwei Wege:
- Es wurde ein Cut-off für den eingesetzten Screeningfragebogen CIUS genutzt, welcher aus einer anderen Stichprobe entnommen wurde (Van Rooij et al., 2011). Dieser Grenzwert stammt aus zwei Stichproben von 13- bis16-jährigen Schülern (n=1.572/1.476). Ziel der Studie war die Ermittlung einer auffälligen Gruppe, die eine Abhängigkeit für Online-Videospiele aufweist. Mittels einer Latent Class Analyse (LCA) auf Basis der CIUS wurde eine solche Gruppe identifiziert. Ein Cut-off von 28 oder mehr Punkten erwies sich als günstig. Mit Hilfe dieses Schwellenwertes konnte eine grobe Schätzung der Internetabhängigkeit in PAGE vorgenommen werden.
- Es wurde mit Hilfe eines modernen und für unseren Zweck besonders aufschlussreichen statistischen Verfahrens, der Latent Class Analyse (LCA), eine Gruppe identifiziert, welche aufgrund ihres Antwortmusters als wahrscheinlich abhängig angesehen werden kann.LCA ist eine Methode zur Identifikation von bedeutsamen Gruppen von Personen, deren Antwortverhalten ähnlich ist. Die Berechnung erfolgte mit Mplus 5.1. (Muthén & Muthén, 1998). Zur Ermittlung einer Untergruppe, welche Merkmale einer Internetabhängigkeit aufweist, wurden mehrere Modelle gerechnet und eine Reihe von goodness-of-fit-Maßen genutzt, um ein Modell auszuwählen. Zu diesen Maßen gehörten: Bayesian Information Criterion (BIC)-value (geringe Werte weisen auf bessere Anpassung hin), Entropy-Maß (höhereWerte weisen auf bessere Anpassung hin), Vuong-Lo-Mendell-Rubin Likelihood Ratio Test und adjusted Lo-Mendell-Rubin-Likelihood Ratio Test (ein p‑Wert < .05 zeigt an, dass das Modell besser als das vorherige ist). Der Bootstrapped-Likelihood-Ratio-Test (BLRT) war nicht anwendbar, da dieser nicht mit gewichteten Daten berechnet werden kann. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die Brauchbarkeit des Modells aufgrund von theoretischen oder praktischen Erwägungen. Eine Überprüfung der Charakteristiken der Klassen erfolgt über inferenzstatistische Vergleiche mit den übrigen Klassen. Die LCA-Berechnungen wurden von Dr. Ad A. Vermulst, Department of Developmental Psychopathology, Behavioural Science Institute, Radboud University Nijmegen, Holland, durchgeführt.
2.3.2 Gewichtung der Telefonstichprobe und Berücksichtigung des Stichprobendesigns bei der Datenauswertung
Alle Daten wurden unter Nutzung von Stichprobengewichten ausgewertet. Da auf Grundlage der Telefonstichprobe Schätzungen bezogen auf die bundesdeutsche Bevölkerung vorgenommen werden sollten, wurde ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung adäquater Gewichtungsvariablen gelegt. Die Entwicklung der Gewichte erfolgte jeweils separat für die Festnetz- und die Mobilfunkstichprobe. Zunächst wurden sogenannte Designgewichte zum Ausgleich unterschiedlicher Auswahlwahrscheinlichkeiten durch das Stichprobendesign bestimmt. Hierbei wurden verzerrende Effekte des mehrstufigen Ziehungsverfahrens ausgeglichen. Z. B. haben etwa Haushalte, die über mehrere Telefonanschlüsse zu erreichen sind, eine höhere Auswahlwahrscheinlichkeit als Haushalte mit nur einem Anschluss. Menschen hingegen, die in Mehrpersonenhaushalten leben, haben gegenüber Personen in Singlehaushalten designbedingt eine geringere Auswahlwahrscheinlichkeit, da jeweils nur eine Person im gesetzten Lebensaltersbereich je Haushalt befragt wurde. Weiterhin waren abschließend die Mobilfunk- und die Festnetztelefonstichprobe zusammenzuführen. Hierbei mussten durch die Gewichtung die in der Bevölkerung vorliegenden Anteile der Personen mit Festnetzanschluss bzw. ausschließlicher Erreichbarkeit über einen Mobilfunkanschluss („Mobile-Onlys“) in der Stichprobe nachgebildet werden. Auf Grundlage aktueller Befunde wird ein Anteil von „Mobile-Onlys“ in der 14- bis 64-jährigen Bevölkerung von 14% (infas Sozialforschung; unveröffentlichte Daten) angenommen.
Ein zweiter Schritt der Gewichtung bestand im Ausgleich der unterschiedlichen Teilnahmebereitschaft in verschiedenen soziodemografisch definierten Bevölkerungsgruppen auf Grundlage vorliegender Randverteilungen aus amtlichen Statistiken (Redressment). Durch die nach Vorbefunden bedeutsame Assoziation von Glücksspielproblemen mit verschiedenen Sozialindikatoren war es dabei zur Vermeidung verzerrter Prävalenzschätzungen von großer Bedeutung, neben Alters- und Geschlechtsverteilungen auch die Merkmale Schulbildung, Arbeitslosigkeit und Migrationshintergrund an die Grundgesamtheit anzupassen. Grundsätzlich geht mit der Erweiterung der Merkmale für das Redressment eine Reduktion der effektiven Fallzahl der Stichprobe und damit eine Erhöhung des Stichprobenfehlers einher. Somit ist bei der Auswahl berücksichtigter Merkmale eine Abwägung zwischen möglicher Verzerrung und der Genauigkeit der Punktschätzungen zu treffen. Vor diesem Hintergrund wurde den folgenden Analysen eine Gewichtung zugrundegelegt, die die genannten Sozialindikatoren, nicht aber das Merkmal politische Ortsgrößenklasse der Wohngemeinde beinhalten. Eine Verzerrung der Ergebnisse ist hierdurch kaum zu erwarten, da die politische Ortsgrößenklasse der Wohngemeinde bereits als Stratifizierungsmerkmal bei der Gemeinde-Auswahl berücksichtigt wurde und kein wesentlicher Zusammenhang mit dem Hauptuntersuchungsmerkmal Glücksspielprobleme anzunehmen ist.
Für die inferenzstatistische Absicherung der im Folgenden dargestellten Befunde wurde das Stichprobendesign bei der Schätzung der Stichprobenfehler, soweit methodisch möglich, berücksichtigt, da eine Analyse mit Standardverfahren, die eine einfache Zufallsstichprobe unterstellen, zu wesentlichen Verzerrungen führen würde.
3. Durchführung, Arbeits- und Zeitplan
Für die Durchführung des Projektes waren drei Monate vorgesehen. Zu den zu leistenden Arbeiten gehörten die Sichtung der Literatur, die Aufbereitung der Datensätze, die Datenanalysen, Publikation und Berichterstellung. Aus zwei Gründen kam es zu einer Verzögerung der Arbeiten: 1. Für die aufwändige statistische Prozedur anhand der LCA in Zusammenarbeit mit den Forschern aus den Niederlanden bedurfte es eines höheren Zeitaufwands, insbesondere auch für die jeweiligen Absprachen und inhaltlichen Diskussionen des Vorgehens und der Ergebnisse. 2. In der PAGE-Studie wurde als Teil der telefonischen Erhebung eine Einbeziehung von Personen, die nur über mobiles Telefon erreichbar sind, ermöglicht. Die entsprechenden Erhebungen wurden erst am 01.02.2011 abgeschlossen. Es wurde jedoch entschieden, diese Teilstichprobe zu nutzen und ebenso in die Analysen einzubeziehen, weil sie eine wesentliche Verbesserung der Methodik darstellt. Zusätzlich zu den geplanten Arbeiten haben wir so die Möglichkeit genutzt, Leistungen über den Rahmen der Ressourcen in diesem Projekt zu erbringen. Diese Ausweitung unserer Leistungen hat die Qualität der Ergebnisse deutlich verbessert. Die Arbeiten wurden nach Förderende aus eigenen Mitteln durch die Projektleitung fortgeführt, so dass sie bis zur Berichterstellung abgeschlossen waren. Eine Publikation der Resultate in einer Fachzeitschrift steht aufgrund der Verzögerungen noch aus.
4. Ergebnisse
Von den insgesamt 15.023 befragten Personen gaben 8.130 (54,1%) an, das Internet für private Zwecke entweder mindestens eine Stunde an einem Wochentag oder einem Tag amWochenende genutzt zu haben und erhielten die Fragen der CIUS. Alle folgenden Analysen sind auf Basis gewichteter Daten durchgeführt worden, es sei denn, es ist anders angemerkt.
4.1 Prävalenzschätzung auf Basis des Cut-offs
Legt man, wie in der Methodik beschrieben, den Cut-off von 28 bei der CIUS zugrunde, ergibt sich für die Gesamtstichprobe der 14- bis 64-Jährigen eine geschätzte Prävalenz für wahrscheinliche Internetabhängigkeit von 1,5% bezogen auf alle Teilnehmer (Probanden, die aufgrund des Filters zur Internetnutzung nicht befragt wurden, gelten als unauffällig). Befunde nach Geschlecht und die jeweiligen Konfidenzintervalle finden sich in Tabelle 1.
Tabelle 1: Prävalenzschätzung auf Basis des Cut-off 28 des CIUS, Alter 14–64 (n=15.023)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 1,5 | 1,3–1,7 |
Frauen | 1,3 | 1,0–1,7 |
Männer | 1,7 | 1,3–2,1 |
Bei getrennter Betrachtung der jüngeren Altersgruppe ergeben sich höhere Prävalenzzahlen und eine Verschiebung innerhalb der Geschlechter zu höheren Anteilen bei den weiblichen Teilnehmern (Tabellen 2 und 3).
Tabelle 2: Prävalenzschätzung auf Basis des Cut-off 28 des CIUS, Alter 14–24 (n=2.937)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 3,8 | 3,0–4,6 |
Frauen | 4,5 | 3,3–6,0 |
Männer | 3,0 | 2,3–4,3 |
Tabelle 3: Prävalenzschätzung auf Basis des Cut-off 28 des CIUS, Alter 14–16 (n=693)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 6,3 | 4,6–8,4 |
Frauen | 8,6 | 5,5–13,0 |
Männer | 4,1 | 2,6–6,3 |
Betrachtet man die Gruppe der 14- bis 24-Jährigen nach Geschlechtern getrennt, so ergibt bei den Auffälligen in der CIUS (vermutete Internetabhängige), dass weibliche Teilnehmer als zuerst genannte Hauptaktivität im Internet vorwiegend Soziale Netzwerke angeben (81,4%; Tabelle 4). Das trifft in hohem Maße auch für die männlichen Teilnehmer zu (61,4%), die jedoch im Gegensatz zu den Mädchen und Frauen auch häufig Onlinespiele benennen (28,9%). Insgesamt unterscheiden sich die Präferenzen signifikant voneinander (<0,001).
Tabelle 4: Erste Nennung bei den Hauptaktivitäten im Internet der 14–24-Jährigen mit auffälligem CIUS-Ergebnis (28 oder mehr Punkte) nach Geschlecht
Aktivitäten online | Häufigkeit (%) | Konfidenzintervall | |
Weiblich | Soziale Netzwerke | 81,4 | 64,4–91,4 |
E‑Mail | 12,7 | 4,7–30,2 | |
Onlinespiele | 3,8 | 3,3–17,7 | |
Unterhaltung (Musik, Filme etc.) | 2,1 | 0,3–14,3 | |
Männlich | Soziale Netzwerke | 61,4 | 43,5–76,7 |
Onlinespiele | 28,9 | 15,7–47,1 | |
Informieren | 3,5 | 0,4–23,0 | |
E‑Mail | 2,5 | 0,4–15,6 | |
Einkaufen/Verkaufen | 2,4 | 0,3–16,8 | |
Internettelefonie | 1,2 | 0,1–9,0 |
4.2 Prävalenzschätzung auf Basis der Latent-Class-Analyse (LCA)
Es wurden Latent Class Modelle mit 2 bis 7 Klassen gerechnet. Bei den Modellen mit 5 und 6 Klassen zeigte sich eine identisch große Gruppe, welche Extremwerte in der CIUS aufwies. Gegenüber der 5‑Klassen-Lösung zeigte die 6‑Klassen-Lösung die besser Modellanpassung (BIC: 22417 vs. 22490; Entropy 0,769 vs. 0,762). Die 6 Gruppen überschneiden sich nicht, wie aus Abbildung 2 zu entnehmen ist.
Abbildung 2: Boxplot der CIUS-Summenwerte für die 6 Klassen
Eine weitere Analyse der 6‑Klassen-Lösung zeigte Merkmale auf, welche für das Vorliegen einer Gruppe spricht, die als abhängig angesehen werden kann (Klasse 6). Eine zweite Gruppe (Klasse 5) weist vermutlich ein erhöhtes Risiko im Sinne eines problematischen Internetgebrauchs auf. Die entsprechenden Befunde werden im Folgenden benannt: Hierbei zeigt sich, dass die Klasse 6 höhere CIUS-Werte aufweist. Dies ist für die Klasse 5 in abgeschwächter Form ebenfalls beobachtbar (Tabelle 5). Gleiches gilt für die Anzahl der Stunden, die innerhalb der Woche im Internet verbracht werden. Insgesamt zeigt die Klasse 6 ein geringeres Ausmaß an sozialen Aktivitäten sowie sozialem Vertrauen auf. Klasse 5 ist die jüngste der Gruppen, gefolgt von Klasse 6.
Tabelle 5: Merkmale der 6 Klassen: Mittelwerte (Standardfehler)
Klasse | CIUS- Mittelwert | Stunden im In- ternet/Woche | Soziale Teil- habe | Soziales Vertrauen | Alter |
1 | 15,4 (0,03) | 8,7 (0,19) | 5,7 (0,07) | 2,6 (0,02) | 40,4 (0,34) |
2 | 19,4 (0,03) | 11,4 (0,34) | 5,8 (0,74) | 2,7 (0,02) | 36,8 (0,44) |
3 | 23,7 (0,03) | 13,3 (0,33) | 5,7 (0,73) | 2,7 (0,02) | 33,8 (0,41) |
4 | 29, 6 (0,06) | 16,0 (0,42) | 5,5 (0,08) | 2,7 (0,02) | 31,1 (0,51) |
5 | 37,3 (0,13) | 22,5 (0,69) | 5,3 (0,13) | 2,7 (0,03) | 27,6 (0,47) |
6 | 48,7 (0,53) | 29,2 (1,64) | 5,0 (0,21) | 2,5 (0,63) | 30,0 (1,08) |
Signifikanz ℗* | <0,001 | <0,001 | <0,001 | <0,001 | <0,001 |
*ANOVA (CIUS und Alter) bzw. Kruskal-Wallis‑H Test auf Basis ungewichteter Daten
Für die Schätzung der Prävalenz wird im Folgenden das Vorkommen der Klasse 6 in der Gesamtpopulation sowie in Teilstichproben herangezogen.
Daraus ergibt sich für die Gesamtstichprobe der 14- bis 64-Jährigen eine geschätzte Prävalenz für wahrscheinliche Internetabhängigkeit von 1,0% bezogen auf alle Teilnehmer. Befunde nach Geschlecht und die jeweiligen Konfidenzintervalle finden sich in Tabelle 6.
Tabelle 6: Prävalenzschätzung der Internetabhängigkeit auf Basis der LCA (Häufigkeit von Klasse 6), Alter 14–64 (n=15.023)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 1,0 | 0,9–1,2 |
Frauen | 0,8 | 0,6–1,1 |
Männer | 1,2 | 1,0–1,6 |
Bei getrennter Betrachtung der jüngeren Altersgruppe ergeben sich auch bei dieser Herangehensweise höhere Prävalenzraten und es gleichen sich zunächst die Prävalenzen hinsichtlich der Geschlechter an. Bei den 14- bis 16-Jährigen liegt die Prävalenz bei weiblichen Teilnehmern höher (Tabellen 7 und 8).
Tabelle 7: Prävalenzschätzung der Internetabhängigkeit auf Basis der LCA (Häufigkeit von Klasse 6), Alter 14–24 (n=2.937)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 2,4 | 1,9–3,1 |
Frauen | 2,4 | 1,6–3,5 |
Männer | 2,5 | 1,7–3,5 |
Tabelle 8: Prävalenzschätzung der Internetabhängigkeit auf Basis der LCA (Häufigkeit von Klasse 6), Alter 14–16 (n=693)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 4,0 | 2,7–5,7 |
Frauen | 4,9 | 2,8–8,5 |
Männer | 3,1 | 1,8–5,3 |
Bei Betrachtung der zuerst genannten Hauptaktivitäten im Internet zeigt sich erneut, dass bei beiden Geschlechtern die Sozialen Netzwerke im Vordergrund stehen, diese bei den Mädchen und Frauen aber noch häufiger genannt werden (Tabelle 9). Hingegen spielen Jungen und Männer deutlich häufiger Onlinespiele. Insgesamt unterscheiden sich auch hier die Präferenzen signifikant von einander (<0,001). Einige der in Tabelle 4 genannten Aktivitäten der männlichen Teilnehmer tauchen hier nicht mehr auf. Die Schätzung auf Basis der LCA führt somit zu einer stärkeren Fokussierung auf die Hauptaktivitäten Soziale Netzwerke und Onlinespielen, was zusätzlich für die Validiät des LCA-Ansatzes sprechen mag.
Tabelle 9: Erste Nennung bei den Hauptaktivitäten im Internet der 14–24-Jährigen der Klasse 6 der LCA nach Geschlecht
Aktivitäten online | Häufigkeit (%) | Konfidenzintervall | |
Weiblich | Soziale Netzwerke | 77,1 | 52,8–91,0 |
E‑Mail | 11,7 | 2,7–39,3 | |
Onlinespiele | 7,2 | 1,5–28,3 | |
Unterhaltung (Musik, Filme etc.) | 4,0 | 0,5–24,5 | |
Männlich | Soziale Netzwerke | 64,8 | 9,1–27,4 |
Onlinespiele | 33,6 | 2,3–16,7 | |
Internettelefonie | 1,5 | 0,5–1,3 |
Ergänzend zur Klasse 6, die als abhängig angesehen werden kann, lassen sich Prävalenzraten zur Klasse 5 angeben, die vermutlich einen problematischen Internetgebrauch aufweist. Die entsprechenden Daten finden sich in den Tabellen 10 bis 12. Insgesamt sind die jeweiligen Anteile deutlich höher als bei der Abhängigkeit. Es zeigen sich erneut höhere Raten bei den jüngeren Stichproben und das Überwiegen der weiblichen Personen in den jungen Altersgruppen.
Tabelle 10: Prävalenzschätzung des problematischen Internetgebrauchs auf Basis der LCA (Häufigkeit von Klasse 5), Alter 14–64 (n=15.023)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 4,6 | 4,2–5,1 |
Frauen | 4,4 | 3,9–5,0 |
Männer | 4,9 | 4,3–5,5 |
Tabelle 11: Prävalenzschätzung des problematischen Internetgebrauchs auf Basis der LCA (Häufigkeit von Klasse 5), Alter 14–24 (n=2.937)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 13,6 | 12,4–14,8 |
Frauen | 14,8 | 13,0–16,8 |
Männer | 12,4 | 10,4–14,7 |
Tabelle 12: Prävalenzschätzung des problematischen Internetgebrauchs auf Basis der LCA (Häufigkeit von Klasse 5), Alter 14–16 (n=693)
Prävalenz (%) | Konfidenzintervall (%) | |
Gesamt | 15,4 | 12,8–18,5 |
Frauen | 17,2 | 13,2–22,2 |
Männer | 13,7 | 10,5–17,7 |
5. Diskussion der Ergebnisse
Die in der PINTA-Studie gefundenen Prävalenzschätzungen liegen unterhalb der bisher zur Verfügung stehenden Daten von Hahn und Jerusalem (2001), die auf Basis eines Gelegenheitssamples im Rahmen einer Onlinebefragung eine Rate von 3,2% gefunden haben. Die Schätzungen der vorliegenden Stichprobe liegen zwischen 1% und 1,5%. Der höhere Wert wurde bei Zugrundelegung eines Cut-offs aus einer anderen Studie (Van Rooij et al., 2011) gefunden. Diese Schätzung hat folgende Fehlerquellen: Es handelt sich bei der Vergleichsstudie um ein Sample, das auf 13- bis16-jährige Schüler begrenzt ist. Weiterhin ging es hier um die Erfassung von Onlinespielabhängigkeit. Die Übertragbarkeit ist daher eingeschränkt. Darüber hinaus ist eine Prävalenzschätzung aufgrund eines Screeningverfahrens immer mit einer hohen Fehlerrate verbunden. Insbesondere bei geringer Prävalenz und niedriger Spezifität können deutliche Überschätzungen erfolgen (Gambino, 1997). Korrekturen durch Formeln, die Sensitivität und Spezifität berücksichtigen, wie ursprünglich geplant, waren in diesem Fall nicht möglich. Der Grund liegt darin, dass diese beiden Validitätsmaße zwar aus Antwortwahrscheinlichkeiten der LCA in der Studie von Van Rooij et al. hätten berechnet werden können, es aber ein Zirkelschluss gewesen wäre, da aus gleicher Analyse auch die auffällige Klasse berechnet wurde. Es fehlt ein Außenkriterium.
Der zweite Ansatz der vorliegenden Studie konnte eine Klasse auf Basis der LCA identifizieren, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gruppe von Internetabhängigen darstellt. Dafür spricht eine Reihe von Befunden, die diese von den anderen Klassen unterscheidet. Diese Gruppe wies die höchsten Werte in der CIUS auf, verbrachte die meiste Zeit im Internet,
zeigte weniger soziale Aktivitäten, empfand weniger soziales Vertrauen und war eher jung. Eine zweite Gruppe hob sich ebenfalls ab und kann als problematisch im Hinblick auf das Internetverhalten betrachtet werden. Dieses Vorgehen hat folgende Fehlerquellen: 1. Die Gruppenbildung basiert allein auf der CIUS. Merkmale, die hier nicht enthalten sind, finden keine Berücksichtigung. 2. Auch wenn eine Reihe von Kriterien genutzt wurde, um das am besten geeignete Modell zu finden, besteht immer ein gewisser interpretativer Spielraum. Zusammen genommen fehlt auch hier eine externe Validierung.
Insgesamt wird eher davon ausgegangen, dass die Schätzung auf Basis der LCA näher an der wahren Prävalenz liegt, da die Fehlerquellen bei der anderen Schätzung generell als deutlich größer eingeschätzt werden müssen. Für die Gesamtgruppe liegen die Schätzungen auch weit von einander entfernt.
Bezogen auf die Projektziele ist es klar gelungen, eine genauere Abschätzung der Prävalenz zu ermöglichen. Der eindeutige Vorteil ist die Basis einer großen und repräsentativen Stichprobe, die zudem neben der Festnetzstichprobe auch Personen beinhaltet, die nur durch mobile Telefone erreichbar ist.
Bei Betrachtung der Altersgruppen und der Verteilung innerhalb der Geschlechter ist auffällig, dass in den jungen Altersgruppen die Prävalenzraten der Mädchen die der Jungen übersteigt. Verglichen mit früheren Befunden (Hahn & Jerusalem, 2001; Petersen et al., 2010) war dies nicht erwartbar. Der Befund ist umso auffälliger, da dieser Trend bei beiden Schätzungen nach den unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen gefunden wurde. Ebenso findet sich dies in der LCA auch für die zweite auffällige Klasse, deren Internetnutzung als problematisch angesehen werden kann. Betrachtet man die jeweilig Auffälligen in der Gruppe der 14- bis 24-Jährigen, so findet man Unterschiede in den Präferenzen der Internetaktivitäten. Zwar wird von beiden Gruppen am häufigsten angegeben, dass Soziale Netzwerke genutzt werden, dieses ist jedoch besonders ausgeprägt bei weiblichen Personen, die hingegen eher selten Onlinespiele nutzen. Insgesamt und gerade für diese unerwarteten Befunde bei den jungen weiblichen Probanden wird in zukünftigen Studien zu klären sein, ob die gefundenen Auffälligkeiten tatsächlich im Sinne einer Störung zu verstehen sind, für die Hilfe benötigt wird. Dazu ist es notwendig vertiefende Interviews zu führen, die die klinische Bedeutsamkeit auf der Ebene der Symptome und Kriterien wie auch der damit verbundenen Beeinträchtigungen erfassen.
6. Gender Mainstreaming Aspekte
Es konnten durch die Repräsentativität der Stichprobe und die jeweils getrennten Analysen für Frauen und Männer Aspekte des Gender Mainstreamings in vollem Ausmaß berücksichtigt werden.
7. Gesamtbeurteilung
Die Vorhabenziele wurden voll erreicht. Insbesondere konnte die statistisch aufwändige LCA genutzt werden, die methodisch eine genauere Schätzung der Prävalenz ermöglichte. Die Verzögerungen im Projektablauf durch diese Analyse und durch die Hinzunahme der Stichprobe, die nur über Mobiltelefon erreichbar ist, sind durch den jeweiligen methodischen Gewinn klar zu rechtfertigen.
8. Verbreitung und Öffentlichkeitsarbeit der Projektergebnisse
Aufgrund der sehr kurzen Laufzeit des Projektes konnte bislang keine breite Publikationsaktivität erfolgen. Dies ist für die kommende Zeit geplant. Geplant sind bereits Vorstellungen auf dem Suchtkongress in Frankfurt (28.09–01.10.2011) sowie beim Wissenschaftlichen Gespräch der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) in Lübeck (02.–04.12.2011). Eine Vorstellung im Kriminologischen Forschungsinstitut in Hannover ist bereits erfolgt. Publikationen in Fachzeitschriften sollen folgen.
9. Verwertung der Projektergebnisse (Nachhaltigkeit/Transferpotential)
Die Ergebnisse weisen auf hohe Raten problematischen oder suchthaften Internetgebrauchs in jungen Altersgruppen und hier insbesondere unter weiblichen Personen hin. Um einschätzen zu können, ob hier ein besonderer Bedarf für Prävention oder Behandlungsangebote besteht, ist eine weitere Abklärung dieser ersten Befunde in einer detaillierten Folgestudie dringend geboten.
10. Publikationsverzeichnis Vorträge
Rumpf, H. J., Meyer, C. & John, U. (2011). Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA), Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen. Hannover, 09.05.2011.Rumpf, H. J., Meyer, C. & John, U. (2011). Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA): Ergebnisse und Ausblick, Bundesministerium für Gesundheit. Berlin, 07.04.2011.
11. Literatur
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