Studie zur Diagnostik und Prävalenz von Internetabhängigkeit

Prävalenz der Internetabhängigkeit – Diagnostik und Risikoprofile (PINTA-DIARI)

Kom­pakt­be­richt
An das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Gesund­heit
Pro­jekt­lauf­zeit: 01.09.2011 bis 31.03.2013
För­d­er­kenn­zei­chen: IIA5-2511DSM230
För­der­sum­me: 252.960 €

Gal­lus Bischof, Anja Bischof, Chris­ti­an Mey­er, Ulrich John & Hans-Jür­gen Rumpf

Lübeck, August 2013
Pro­jekt­lei­tung: PD Dr. Hans-Jür­gen Rumpf

Kon­takt:
PD Dr. Hans-Jür­gen Rumpf, Uni­ver­si­tät zu Lübeck, Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie, Rat­ze­bur­ger Allee 160, 23538 Lübeck, Tel: 0451/500‑2871
hans-juergen.rumpf@ uksh.de

Die­ser Kom­pakt­be­richt fasst die wesent­li­chen Befun­de der PINTA-DIARI Stu­die zusam­men. Dabei wer­den Befun­de und Daten nicht im Detail beschrie­ben. Die­se fin­den sich im aus­führ­li­chen Abschlussbericht.

1. Hintergrund

Inter­net­ab­hän­gig­keit ist eine noch jun­ge Stö­rung, für die es wenig wis­sen­schaft­lich gesi­cher­te Daten gibt, wie sie zu dia­gnos­ti­zie­ren ist und wel­che Risi­ko­mer­k­ma­le bestehen. Ins­be­son­de­re Daten aus der All­ge­mein­be­völ­ke­rung feh­len. Die meis­ten Stu­di­en haben Risi­ko­grup­pen oder Per­so­nen, die für die Stö­rung Behand­lung in Anspruch neh­men, unter­sucht. Hier­bei wur­den auch häu­fig ledig­lich Fra­ge­bo­gen­ver­fah­ren ein­ge­setzt und es fehl­te meist eine aus­führ­li­che Dia­gnos­tik und Beur­tei­lung der kli­ni­schen Bedeu­tung der Stö­rung. Sol­che Daten sind für das Ver­ständ­nis die­ser Stö­rung, die Abschät­zung der Häu­fig­keit ihres Vor­kom­mens und die Pla­nung von Prä­ven­ti­on und The­ra­pie notwendig.

Die Stu­die „Prä­va­lenz der Inter­net­ab­hän­gig­keit (PINTA)“ ermög­lich­te eine Schät­zung für die Häu­fig­keit von Inter­net­sucht in einer gro­ßen deut­schen All­ge­mein­be­völ­ke­rungs­stu­die. Hier­für wur­de eine sta­tis­ti­sche Metho­de ange­wandt, wel­che Klas­sen auf­grund der Ant­wor­ten in einem Fra­ge­bo­gen zum Inter­net­ver­hal­ten ermit­tel­te (Latent Class Ana­ly­se). Die Ergeb­nis­se zeig­ten, dass nach den Ant­wort­mus­tern zwei Grup­pen auf­fäl­lig waren, eine, die Merk­ma­le ris­kan­ten Inter­net­kon­sums auf­wies und eine zwei­te, die Hin­wei­se auf eine Inter­net­ab­hän­gig­keit zeig­te. Die­se letz­te Grup­pe umfass­te 1% der Bevöl­ke­rung zwi­schen 14 und 64 Jah­ren (Rumpf et al., in press). Wäh­rend in älte­ren Stu­di­en deut­lich mehr männ­li­che Befrag­te eine Inter­net­sucht auf­wie­sen, gab es in der PIN­TA-Stu­die ins­ge­samt eher gerin­ge und nicht signi­fi­kan­te Unter­schie­de zwi­schen Män­nern (1,2%) und Frau­en (0,8%), wobei die Frau­en und Mäd­chen eher Sozia­le Netz­wer­ke als Haupt­nut­zung des Inter­nets anga­ben und die männ­li­chen Teil­neh­mer Online-Rol­len­spie­le. Höhe­re Raten zeig­ten sich ins­ge­samt bei jün­ge­ren Alters­grup­pen (2,4% der 14 bis 24-Jäh­ri­gen und 4,0 % der 14–16-Jährigen) und hier waren weib­li­che Teil­neh­mer noch häu­fi­ger betroffen.

Als Kon­se­quenz ergab sich aus den Befun­den, dass genaue­re Erfas­sungs­me­tho­den not­wen­dig waren, um zu klä­ren, wel­che Rele­vanz die PIN­TA-Ergeb­nis­se haben. Es blieb unge­klärt, ob ein Teil der Befun­de unter Umstän­den eher dar­auf zurück­zu­füh­ren war, dass beson­ders bei jun­gen Men­schen das Inter­net eine Form von Fas­zi­na­ti­on aus­löst, deren Erschei­nungs­wei­se mit Zei­chen einer Sucht ver­wech­selt wer­den kann. Not­wen­dig war zu klä­ren, ob die­se Per­so­nen auch tat­säch­lich deut­li­che Beein­träch­ti­gun­gen durch die exzes­si­ve Inter­net­nut­zung erleben.

2. Ziele der Studie

Haupt­ziel der vor­lie­gen­den Stu­die war, eine genaue­re Dia­gnos­tik mit Hil­fe eines stan­dar­di­sier­ten kli­ni­schen Inter­views vor­zu­neh­men, um ein bes­se­res Abbild der Stö­rung zu ermög­li­chen und die damit ver­bun­de­nen Beein­träch­ti­gun­gen abzu­schät­zen. Zu den Zie­len zählten:

  1. Die in PINTA erfolg­te Prä­va­lenz­schät­zung soll­te über­prüft werden.
  2. Für die Com­pul­si­ve Inter­net Use Sca­le (CIUS; Meer­kerk, Van Den Eijn­den, Ver­mulst, & Gar­ret­sen, 2009), wel­che in PINTA ein­ge­setzt wur­de, soll­te ein Cut-off Wert ermit­telt wer­den, der zwi­schen Per­so­nen mit und ohne Abhän­gig­keit differenziert.
  3. Es soll­ten Risi­ko­fak­to­ren unter­sucht wer­den, wel­che eine Rol­le in der Ent­wick­lung der Stö­rung haben könnten.
  4. Für die iden­ti­fi­zier­ten Per­so­nen mit einer Inter­net­ab­hän­gig­keit galt zu unter­su­chen, ob die­se Stö­rung auch mit Beein­träch­ti­gun­gen ver­bun­den ist.
  5. Ergän­zend wur­de das Ziel ver­folgt, Haupt­ak­ti­vi­tä­ten im Inter­net (Com­pu­ter­spie­le, Sozia­le Netz­wer­ke und eine Grup­pe mit wei­te­ren Akti­vi­tä­ten wie zwang­haf­tes Recher­chie­ren oder der Kon­sum von Ero­tik und Por­no­gra­fie) hin­sicht­lich ihrer Bedeu­tung für die Inter­net­sucht gegen­über zu stellen.

3. Methodische Vorgehensweise

Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer der PIN­TA-Stu­die erhiel­ten in PINTA-DIARI eine Nach­be­fra­gung, in der aus­führ­lich eine stan­dar­di­sier­te, voll struk­tu­rier­te Dia­gnos­tik der Inter­net­ab­hän­gig­keit erfolg­te. Dabei wur­den alle ein­ge­schlos­sen, die erhöh­te Wer­te von 21 oder mehr Punk­ten in der CIUS auf­wie­sen. Der Nach­be­fra­gungs­zeit­raum lag zwi­schen 12 und 30 Mona­ten und betrug im Mit­tel 21,5 Mona­te. Die Inter­views wur­den bun­des­weit von kli­nisch erfah­re­nen Inter­viewe­rinn­nen (meist Psy­cho­lo­gin­nen) durch­ge­führt. Ins­ge­samt konn­ten 196 Per­so­nen nach­un­ter­sucht werden.

Die Dia­gnos­tik bestand aus einem umfang­rei­chen Inter­view, bei dem Vor­schlä­ge für die Kri­te­ri­en der Inter­net­sucht inte­griert wur­den. Ins­be­son­de­re konn­te dadurch auch der wäh­rend der Pro­jekt­lauf­zeit ange­kün­dig­te Vor­schlag der Ame­ri­can Psych­iatric Asso­cia­ti­on abge­bil­det wer­den. Die­ser Vor­schlag wur­de zunächst als For­schungs­dia­gno­se „Inter­net Gaming Dis­or­der“ im Dia­gnos­ti­schen und Sta­tis­ti­schen Manu­al für Psy­chi­sche Stö­run­gen (DSM‑5; Ame­ri­can Psych­iatric Asso­cia­ti­on, 2013) begrenzt auf den Bereich des Com­pu­ter­spie­lens ein­ge­führt (Petry & O’Bri­en, epub 2013) und im Rah­men der vor­lie­gen­den Stu­die als Grund­la­ge der Dia­gno­se der Inter­net­ab­hän­gig­keit genutzt; das bedeu­tet, dass die Kri­te­ri­en hier auch für ande­re Akti­vi­tä­ten im Inter­net ange­wandt wur­den und nicht nur für Com­pu­ter- bzw. Online­spiel. Nach DSM‑5 müs­sen 5 von 9 Kri­te­ri­en vor­lie­gen. Neben die­ser Dia­gnos­tik wur­den Risi­ko­fak­to­ren und Beein­träch­ti­gungs­ma­ße sowie wei­te­re psy­chi­sche Stö­run­gen erho­ben. Die Erfas­sung der wei­ter­hin bestehen­den (komor­bi­den) psy­chi­schen Stö­run­gen schloss auch Per­sön­lich­keits­stö­run­gen ein und wur­de durch bewähr­te stan­dar­di­sier­te teil- und voll­struk­tu­rier­te Inter­views geleis­tet. Für die Dia­gno­se von Stö­run­gen im Bereich der Ach­se I nach DSM-IV (Saß, Witt­chen, & Zau­dig, 1996) wur­de das Mün­che­ner Com­po­si­te Inter­na­tio­nal Dia­gnostic Inter­view (M‑CIDI;Wittchen et al., 1995) ein­ge­setzt. Die Dia­gno­se von Per­sön­lich­keits­stö­run­gen erfolg­te mit dem SKID II (Struk­tu­rier­tes Kli­ni­sches Inter­view für DSM-IV, Ach­se II; Fyd­rich, Ren­ne­berg, Schmitz, & Witt­chen, 1997).

4. Ergebnisse

4.1 Prävalenzschätzung

Die Prä­va­lenz­schät­zung aus PINTA (s. Tabel­le 1) konn­te im Wesent­li­chen bestä­tigt wer­den. In der nach­un­ter­such­ten Stich­pro­be war der Anteil der Per­so­nen, der zu den bei­den Mess­zeit­punk­ten bei den unter­schied­li­chen Mess­me­tho­den (LCA in PINTA und dia­gnos­ti­sches Inter­view mit den Kri­te­ri­en nach DSM‑5 in PINTA-DIARI) eine Inter­net­ab­hän­gig­keit auf­wies, nahe­zu iden­tisch. Auch beim Ver­gleich von geschlechts- und alters­spe­zi­fi­schen Unter­grup­pen fan­den sich nur weni­ge Abwei­chun­gen beim Ver­gleich der bei­den Dia­gno­sen, so dass eine Kor­rek­tur der Daten aus PINTA nicht gerecht­fer­tigt erscheint. Die größ­te Abwei­chung zeig­te sich in der Grup­pe der 14- bis 24-jäh­ri­gen Frau­en mit höhe­ren Prä­va­lenz­ra­ten bei der Nachuntersuchung.

Tabel­le 1: Prä­va­lenz der Inter­net­ab­hän­gig­keit aus PINTA

Alters­grup­peGesamt (%) Weib­lich (%) Männ­lich (%)
14–64 1,00,81,2
14–24 2,42,42,5
14–16 4,04,93,1

4.2 Cut-off für die CIUS

Für das Fra­ge­bo­gen­ver­fah­ren CIUS konn­ten Ver­glei­che der Ergeb­nis­se zum ers­ten Erhe­bungs­zeit­punkt (PINTA) mit den Inter­view­da­ten vom zwei­ten (PINTA-DIARI) durch­ge­führt wer­den. Die­se wur­den genutzt, um einen Cut-off Wert zu bestim­men. Unter­schie­den wer­den soll dabei zwi­schen einer Emp­feh­lung für den Zweck der Falli­den­ti­fi­ka­ti­on (z.B. im Rah­men von Prä­ven­ti­on oder Inter­ven­ti­on) und der Prä­va­lenz­schät­zung. Die Ergeb­nis­se legen nahe, hier unter­schied­li­che Wer­te zu empfehlen.

Für die Fall­fin­dung konn­ten die Daten der nach­un­ter­such­ten Per­so­nen (wel­che alle min­des­tens 21 Punk­te in PINTA hat­ten, also eine sele­gier­te Grup­pe dar­stel­len) zei­gen, dass ein Cut-off von 28, wie ihn die Autoren des Tests vor­ge­schla­gen haben (Meer­kerk et al., 2009), oder von 30, wie es die Daten aus PINTA nahe­le­gen, unbe­frie­di­gend ist. Hier­mit wür­den, wenn man z. B. die Wer­te für die in PINTA-DIARI Life­time-Abhän­gi­gen her­an­zieht, nur 35% (Cut-off 28) bzw. 27% (Cut-off 30) iden­ti­fi­ziert wer­den. Ins­ge­samt ist für den Zweck der Fall­fin­dung ein Wert von 24 sinn­voll, wenn man min­des­tens 70% der Ziel­per­so­nen ent­de­cken will.

Für epi­de­mio­lo­gi­sche Zwe­cke (Prä­va­lenz­schät­zung) ist ein höhe­rer Cut-off her­an­zu­zie­hen, weil sonst auf Grund der gerin­gen Spe­zi­fi­tät eine Über­schät­zung der Prä­va­lenz droht. Es wird ein Cut-off von 30 emp­foh­len. Die PINTA-DIARI Daten las­sen damit eine bes­se­re Annä­he­rung an die tat­säch­li­che Prä­va­lenz erwar­ten. Die­ser Cut-off steht in Über­ein­stim­mung mit den Ergeb­nis­sen von PINTA. Für die Wahl der Cut-offs gel­ten bedingt durch das Zeit­in­ter­vall zwi­schen den Erhe­bun­gen metho­di­schen Ein­schrän­kun­gen. Ins­ge­samt ist Vor­sicht gebo­ten, wenn mit Kurz­tests eine Prä­va­lenz geschätzt wird, da die Schät­zung vom Ver­hält­nis von Sen­si­ti­vi­tät, Spe­zi­fi­tät und wah­rer Prä­va­lenz abhängt und zu mas­si­ven Über- oder Unter­schät­zun­gen füh­ren kann.

4.3 Risikofaktoren

Eine Rei­he von Risi­ko­fak­to­ren konn­te gefun­den wer­den, die mit der Dia­gno­se der Inter­net­ab­hän­gig­keit ein­her­ge­hen. Wie erwart­bar wur­den von den Abhän­gi­gen höhe­re Nut­zungs­dau­ern im Inter­net ange­ge­ben. Wei­ter­hin stellt die Haupt­nut­zung von Online-Spie­len einen Risi­ko­fak­tor dar. Wäh­rend inner­halb der Grup­pe mit exzes­si­ver Nut­zung kei­ne Geschlech­ter­un­ter­schie­de im Hin­blick auf das Vor­lie­gen einer Inter­net­ab­hän­gig­keit fest­zu­stel­len waren, konn­ten die Vor­be­fun­de deut­li­cher Geschlech­ter­un­ter­schie­de hin­sicht­lich der bevor­zug­ten Inter­net­an­wen­dun­gen bei Inter­net­ab­hän­gi­gen repli­ziert wer­den. Wäh­rend abhän­gi­ges Com­pu­ter­spie­len pri­mär bei (jün­ge­ren) Män­nern anzu­tref­fen ist, domi­nie­ren Abhän­gig­keits­merk­ma­le bei Nut­zung Sozia­ler Netz­wer­ke bei (jün­ge­ren) Frau­en. Es zeig­te sich ein Zusam­men­hang zu ande­ren psy­chi­schen Erkran­kun­gen. Von den DSM-IV Ach­se 1 Stö­run­gen war das Vor­lie­gen von min­des­tens einer Stö­rung erhöht wie auch das Vor­lie­gen von affek­ti­ven Stö­run­gen, jedoch nicht von Angst­stö­run­gen. Ins­be­son­de­re konn­te PINTA-DIARI auf­zei­gen, dass hohe Raten an Per­sön­lich­keits­stö­run­gen komor­bid auf­tre­ten. Dies gilt für das ins­ge­sam­te Vor­lie­gen von min­des­tens einer Stö­rung wie auch für die Clus­ter A, B und C. Dabei sind die Raten jeweils min­des­tens um das drei­fa­che bei den Abhän­gi­gen erhöht. Als wei­te­re komor­bi­de Stö­rung fand sich ADHD als Risi­ko­fak­tor. Auch Teil­be­rei­che der Impul­si­vi­tät (feh­len­de Beharr­lich­keit und kogni­ti­ve Insta­bi­li­tät) fan­den sich aus­ge­präg­ter bei den Abhängigen.

4.4 Beeinträchtigungen

Die nach DSM‑5 Abhän­gi­gen wie­sen in einer Rei­he von Merk­ma­len signi­fi­kan­te Beein­träch­ti­gun­gen auf. Von 15 Varia­blen, die Aus­wir­kun­gen des Inter­nets erfas­sen, waren die Wer­te bei den Abhän­gi­gen in 11 Berei­chen signi­fi­kant schlech­ter. Die nega­ti­ven Kon­se­quen­zen umfass­ten dabei wei­te Lebens­be­rei­che wie Gesund­heit, Leis­tungs­fä­hig­keit und sozia­le Kontakte.

Tabel­le 2: Beein­träch­ti­gun­gen durch den Inter­net­kon­sum bei Abhän­gi­gen und Nicht-Abhängigen

Beein­träch­ti­gung letz­te 12 Mona­teInter­net­ab­hän­gig (>4 Kri­te­ri­en ent­spre­chend DSM‑5)
MW (SD)
Nicht inter­net­ab­hän­gig (<5 Kri­te­ri­en ent­spre­chend DSM‑5)
MW (SD)
Signi­fi­kanz
Arbeit im Haushalt4,0 (2,6)2,8 (2,1).002*
Arbeits­fä­hig­keit2,9 (2,7)1,3 (2,0)<.001**
Fähig­keit, enge Bezie­hun­gen einzugehen2,3 (2,3)1,4 (2,3)<.001**
Sozi­al­le­ben2,7 (2,5)1,1 (1,7)<.001**
Tage voll­stän­di­ger inter­net­be­ding­ter Arbeitsunfähigkeit5,6 (24,6)0,1 (0,1)<.001**
Tage leich­ter Ein­schrän­kung nor­ma­ler Aktivitäten30,7 (64,6)3,3 (13,5)<.001**

* signi­fi­kant (p<0.01)
** signi­fi­kant (p<0.001)

Bei der kon­kre­ten Abfra­ge von Beein­träch­ti­gun­gen durch die Inter­net­net­nut­zung in den letz­ten 12 Mona­ten waren alle Merk­ma­le bei den Abhän­gi­gen signi­fi­kant stär­ker aus­ge­prägt: So wur­den Ein­schrän­kun­gen im Haus­halt, in der Arbeits­fä­hig­keit, in der Fähig­keit, enge Bezie­hun­gen ein­zu­ge­hen und im Sozi­al­le­ben ange­ge­ben. Wei­ter­hin war die Anzahl der Tage mit leich­ten Ein­schrän­kun­gen nor­ma­ler Akti­vi­tä­ten oder voll­stän­di­ger inter­net­be­ding­ter Arbeits­un­fä­hig­keit (Tabel­le 2) deut­lich erhöht. Um einen Ver­gleich zu haben, las­sen sich Daten aus einer WHO-Stu­die nut­zen (Alon­so et al., 2011): Men­schen mit Depres­si­on gaben dort 4,1 Tage an, an denen sie kom­plett nicht in der Lage waren, ihre Ver­pflich­tun­gen zu erfül­len, Dro­gen­miss­brau­cher oder –abhän­gi­ge 1,2 und die Inter­net­ab­hän­gi­gen in PINTA-DIARI 5,6. Die Befun­de legen somit nahe, dass es sich um eine kli­nisch rele­van­te Stö­rung handelt.

4.5 Unterschiede hinsichtlich der Hauptaktivitäten im Internet (Computerspiele, Soziale Netzwerke, andere Aktivitäten)

Von der Grup­pe der Abhän­gi­gen gaben 36,6% an, dass ihre Haupt­ak­ti­vi­tät in Online-Spie­len bestand, 36,6% gaben Sozia­le Netz­wer­ke und 26,8% ande­re Inter­net­an­wen­dun­gen an. Zwi­schen die­sen drei Grup­pen zeig­ten sich kaum Unter­schie­de, auch im Hin­blick auf Beein­träch­ti­gun­gen (s. Tabel­le 3), der Lebens­be­wäl­ti­gung und Abhän­gig­keits­merk­ma­le. Die höchs­te Nut­zungs­dau­er wie­sen aller­dings die Online-Spie­le­rin­nen und ‑Spie­ler auf. Frau­en waren deut­lich häu­fi­ger von der Abhän­gig­keit von Sozia­len Netz­wer­ken betroffen.

Tabel­le 3: Beein­träch­ti­gun­gen durch den Inter­net­kon­sum bei Abhän­gi­gen auf­ge­trennt nach Haupt­ak­ti­vi­tä­ten
Beein­träch­ti­gung letz­te 12 Monate

Beein­träch­ti­gung letz­te 12 Mona­teCom­pu­ter-spie­le
MW (SD)
Sozia­le Net­wer­ke MW (SD)Sons­ti­ge
MW (SD)
Signi­fi­kanz
MW (SD)
Arbeit im Haushalt2,8 (2,7)3,9 (2,6)4,3 (2,5).735
Arbeits­fä­hig­keit2,3 (2,4)3,2 (2,9)3,1 (2,7).458
Fähig­keit, enge Bezie­hun­gen einzugehen1,9 (2,2)2,3 (2,4)2,7 (2,1).325
Sozi­al­le­ben2,9 (2,6)2,5 (2,5)2,9 (2,4).675
Tage voll­stän­di­ger inter­net­be­ding­ter Arbeitsunfähigkeit7,5 (34,7)6,3 (20,9)2,0 (7,8).690
Tage leich­ter Ein­schrän­kung nor­ma­le Aktivitäten21,6 (71,6)27,2 (55,8)47,8 (66,9).308

5. Schlussfolgerungen

Es lie­gen hier­mit – unse­res Wis­sens welt­weit – erst­ma­lig Daten zu den im DSM‑5 vor­ge­schla­ge­nen Kri­te­ri­en für Inter­net Gaming Dis­or­der vor. Die Kri­te­ri­en wur­den hier auch auf ande­re Anwen­dun­gen (Sozia­le Netz­wer­ke und wei­te­res) über­tra­gen. Wei­ter­hin han­delt es sich um eine Nach­er­he­bung, die aus einer reprä­sen­ta­ti­ven Bevöl­ke­rungs­stich­pro­be stammt und damit nicht – wie die Mehr­zahl ande­rer Stu­di­en — auf Teil­po­pu­la­tio­nen wie Studentinnen/Studenten oder aus­ge­wähl­te Online-Nut­ze­rin­nen/-nut­zer beschränkt ist. 

Fol­gen­des Fazit ist zu ziehen:

  • Die Prä­va­lenz aus PINTA kann im Wesent­li­chen bestä­tigt wer­den kann. Es erge­ben sich kei­ne Hin­wei­se durch sys­te­ma­ti­sche Abwei­chun­gen, die eine Kor­rek­tur rechtfertigen.
  • Für die CIUS konn­ten zwei Cut-off Wer­te vor­ge­schla­gen wer­den, je nach­dem, ob eine Fall­fin­dung (24) oder eine Prä­va­lenz­schät­zung (30) erfol­gen soll.
  • Län­ge­re Nut­zungs­dau­ern, Com­pu­ter­spie­le und das Vor­lie­gen komor­bi­der psy­chi­scher Erkran­kun­gen waren Fak­to­ren, die mit dem Vor­lie­gen von Abhän­gig­keit asso­zi­iert waren.
  • Die Ergeb­nis­se zei­gen wei­ter­hin, dass die Inter­net­ab­hän­gig­keit mit deut­li­chen nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen ver­bun­den ist und die­ses sowohl für das Online-Spie­len wie auch für Sozia­le Netz­wer­ke und wei­te­re Inter­net­an­wen­dun­gen gilt.
  • Ins­ge­samt bestan­den kaum Abwei­chun­gen hin­sicht­lich der Anwen­dun­gen im Inter­net. Die Daten spre­chen dafür, dass neben den Com­pu­ter­spie­len auch Sozia­le Netz­wer­ke und wei­te­re Anwen­dun­gen zu einer Abhän­gig­keit füh­ren können.
  • Frau­en zei­gen eine stär­ke­re Gefähr­dung durch Sozia­le Netz­wer­ke, männ­li­che Teil­neh­mer eher durch Com­pu­ter­spie­le. Dar­aus kann abge­lei­tet wer­den, dass die bis­lang meist auf die Kli­en­tel der Com­pu­ter­spie­ler zuge­schnit­te­nen Inter­ven­ti­ons-ange­bo­te einer Erwei­te­rung um die Appli­ka­ti­on Sozia­le Netz­wer­ke bedürfen.

Die Daten bie­ten eine gute Grund­la­ge, spe­zi­fi­sche Maß­nah­men in Bezug auf Prä­ven­ti­on und The­ra­pie zu ent­wi­ckeln. Die PINTA-DIARI Stu­die ist, auch wenn eine Teil­po­pu­la­ti­on aus PINTA nach­be­fragt wur­de, kei­ne eigent­li­che Längs­schnitt­stu­die, die den Ver­lauf der Stö­run­gen abbil­den kann. Für einen sol­chen Zweck lagen aus dem ers­ten Mess­zeit­punkt kei­ne Daten vor. Für ein bes­se­res Ver­ständ­nis der Stö­rung sind sol­che Stu­di­en für die Zukunft wünschenswert.

Literatur

Alon­so, J., Petuk­ho­va, M., Vila­gut, G., Chat­ter­ji, S., Hee­rin­ga, S., Ustun, T. B., et al. (2011). Days out of role due to com­mon phy­si­cal and men­tal con­di­ti­ons: results from the WHO World Men­tal Health sur­veys. Mole­cu­lar Psych­ia­try, 16(12), 1234–1246.

Ame­ri­can Psych­iatric Asso­cia­ti­on (Ed.). (2013). Dia­gnostic and Sta­tis­ti­cal Manu­al of Men­tal Dis­or­ders, fifth edi­ti­on. Washing­ton, D.C.: Ame­ri­can Psych­iatric Association.

Fyd­rich, T., Ren­ne­berg, B., Schmitz, B., & Witt­chen, H.-U. (1997). SKID-II. Struk­tu­rier­tes Kli­ni­sches Inter­view für DSM-IV Ach­se II: Per­sön­lich­keits­stö­run­gen. Göt­tin­gen: Hogrefe.

Meer­kerk, G. J., Van Den Eijn­den, R., Ver­mulst, A. A., & Gar­ret­sen, H. F. L. (2009). The Com­pul­si­ve Inter­net Use Sca­le (CIUS): Some Psy­cho­metric Pro­per­ties. Cyber­psy­cho­lo­gy & Beha­vi­or, 12(1), 1–6.

Petry, N. M., & O’Bri­en, C. P. (epub 2013). Inter­net gaming dis­or­der and the DSM‑5. Addic­tion, epub 2013.

Rumpf, H. J., Ver­mulst, A. A., Bischof, A., Kas­tir­ke, N., Gür­t­ler, N., Bischof, G., et al. (in press). Occu­rence of inter­net addic­tion in a gene­ral popu­la­ti­on sam­ple: A latent class ana­ly­sis. Euro­pean Addic­tion Research.

Saß, H., Witt­chen, H.-U., & Zau­dig, M. (1996). Dia­gnos­ti­sches und Sta­tis­ti­sches Manu­al psy­chi­scher Stö­run­gen DSM-IV. Göt­tin­gen: Hogrefe.

Witt­chen, H.-U., Beloch, E., Gar­c­zyn­ski, E., Hol­ly, A., Lach­ner, G., Per­ko­nigg, A., et al. (1995). Mün­che­ner Com­po­si­te Inter­na­tio­nal Dia­gnostic Inter­view (M‑CIDI), Ver­si­on 2.2. Mün­chen: Max-Planck-Insti­tut für Psychiatrie.

Schreibe einen Kommentar